Regeln nutzen oder brechen?
Eines der buzzwords unserer Zeit ist Disruption.
Schon Joseph Schumpeter, bedeutender Nationalökonom der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, benutzte das Synonym der „schöpferischen Zerstörung“ als Ausdruck wirtschaftlichen und technischen Fortschritts und beschrieb damit den Prozess, durch den alte Güter und Produktionsverfahren ständig durch neue ersetzt werden.
Clayton Christensen, bis zu seinem Tod Anfang 2020 Harvard-Professor für Betriebs-wirtschaftslehre und Vordenker des Silicon Valley, hat 1997 eine Theorie der disruptiven Technologie entwickelt.
Christensen stellt fest, dass Unternehmen unter dem Druck, profitables Wachstum zu generieren und den Standards der Analysten zu genügen, Entscheidungen treffen, die disruptiven Innovationen den Weg (von unten) in den Markt ebnen.
Im Jahr 2012 stellte Kodak, einst Weltmarktführer im Bereich Analogfotografie, einen Insolvenzantrag. Was war geschehen? Hatte Kodak in der Entwicklung digitaler Technologien den Anschluss verloren?
Keineswegs! Kodak selbst hatte die Digitalfotografie 1975 erfunden! Über Jahre hielt man alle relevanten Patente und verdiente mit deren Lizensierung viele Millionen Dollar. Nur brachte Kodak selbst keine Digitalkameras auf den Markt, weil man das lukrative Geschäft mit fotografischen Filmen nicht gefährden wollte. Stattdessen wurde die Analogfotografie weiter verbessert, weiter, als es Amateurfotografen brauchten und preislich honorierten. Eines Tages kippte der Markt: die Einfachheit und Kosteneffizienz der Digitalfotografie war zu verlockend. Erst jetzt stieg Kodak in den Markt ein. Zu spät! Für Kompetenz in der Digitalfotografie standen andere Unternehmen, teilweise Kodak-Lizenznehmer. Der Launch misslang.
Das „Innovator‘s Dilemma“ bestand darin, dass Kodak irgendwann zwischen 1975 und 2012 sein äußerst profitables Geschäftsmodell zugunsten einer in Umsatz und Ertrag weitaus weniger attraktiven Technologie hätte aufgeben müssen. Man wollte seinen Shareholdern offenbar diesen partiellen Einbruch nicht zumuten und hat stattdessen den totalen Zusammenbruch riskiert. Kodak ist sein eigener Erfolg zum Verhängnis geworden! Das Management hat eigentlich lehrbuchmäßig gehandelt, hat kontinuierlich die Produkte optimiert und in die profitabelsten Projekte investiert und ist dennoch gescheitert.
Als Ausweg aus dem „Innovator‘s Dilemma“ deutet Christensen an, die auf neuen Technologien basierenden Produkte getrennt vom Kerngeschäft in einer eigenen Geschäftseinheit aktiv zu vermarkten.
Clayton Chrisrtensen unterscheidet zwischen evolutionären Innovationen, die das spezielle Leistungsprofil bestehender Produkte in bestehenden Märkten ausbauen, und disruptiven Innovationen, die einen neuen Mainstream-Kundennutzen bieten (z.B. Vorteile in der Bedienung oder günstigere Preise).
Ich meine, dass auch Entwicklungen im Technologiebereich oder innovative Geschäftsmodelloptimierungen helfen können, dem ruinösen Wettbewerb zu entkommen und bereit zu sein, wenn sich eine größere Chance auftut (die Option einer regelbrechenden Strategie gehört daher in die Vision von Unternehmen).
Eine zweite Frage ist, ob Disruption tatsächlich immer von unten erfolgt, wie Christensen es beschreibt. Teslas Pionierprodukt, der Roadster, lag mit einem Basispreis von $ 109.000 doch wohl eher im Premiumsegment. Am Beispiel der Elektromobilität lässt sich verdeutlichen, dass die Wirtschaftlichkeitsüberlegungen der Produktmärkte das Phänomen der Disruption nicht vollständig erklären können.